Bäume umarmen – Erfahrungsbericht eines Experience Designers

Letzte Woche habe ich es getan. Ich habe einen Baum umarmt – zum ersten Mal!

Warum?

Weil ich seit letztem November für die Human Centered Design (HCD)-Abteilung von Swisscom arbeite. Das Umarmen von Bäumen ist keine Anforderung an HCD-Mitarbeitende. Es ist auch nicht so, dass wir von der HCD-Abteilung das Umarmen von Bäumen in irgendeiner Weise propagieren. Ich habe aber festgestellt, dass dieses Thema immer wieder aufkommt: “HCD? Das sind die, die Bäume umarmen und so esoterisches Zeugs machen.”
Nun, um dem Vorurteil gerecht zu werden, habe ich das jetzt mal getan. Schliesslich heisst es ja Human Centered Design und im Gegensatz zu Engineering und Software-Entwicklung, wo es nach gängiger Meinung nur um Maschinen und Code geht und ebenfalls im Gegensatz zu Produkt-Management, wo sich alles ums Geld dreht, ist es naheliegend, dass, wenn da jemand esoterisch unterwegs ist, es die Kollegen von HCD sein müssten.

  • Das sind die, mit den farbenfrohen Post-It-Zetteln
  • Das sind die, die Prototypen bauen, die oftmals an die Bastelwerke von Kindern erinnern
  • …die mit den lustigen Zeichnungen, die nichts mit wirklicher Kunst zu tun haben
  • …die, die propagieren, man solle mit Kunden sprechen, um sie besser zu “spüren”

Klar könnte man diesen Eindrücken entgegenwirken…

  • Stell dir eine geschäftswelt-gerechte Post-It-Wand vor. Wir könnten dazu weisse und graue Post-It produzieren lassen.
  • Wir könnten unsere Prototypen nicht so günstig wie möglich herstellen – eben nicht basteln – sondern, wie früher, so professionell wie möglich ausgestalten, um damit mehr WOW fürs Design zu erhalten.
  • Wir könnten behaupten, dass wir uns die Gespräche mit Nutzern ersparen können, denn schliesslich sind wir ja Experten und wissen unterdessen, welche Nutzer-Erlebnis-Designs funktionieren und welche nicht.


“Was für einen Baum soll ich eigentlich umarmen?”, stellte ich mir die Frage und befand, dass die Marke Baum wahrscheinlich egal ist. Es heisst ja nicht eine Tanne oder eine Buche umarmen.


Eigentlich ist es ganz einfach: Human Centered = Menschenzentriert.
Peter Merholz (Design executive and organizational consultant; founder Adaptive Path) hat vor 4 Jahren diese Grafiken gezeigt:

Grafik: d>

Merholz hat gesagt: “User Experience als Fachgebiet gibt es nur, wegen ungenügendem Produktmanagement.”

Grafik: d>

Also: Nutzer/Kunden sind in der Produktentwicklung untervertreten, deshalb braucht es den UX Designer, der die Bedürfnisse der Nutzer/Kunden in den Mittelpunkt stellt.
Sollten jetzt HCD/UX/CX den Job des Produktmanagers machen?


Paul Adams (VP of Product @Intercom, PM, UX, Design at Facebook, Google, Dyson) hat 2018 zugegeben auf dem falschen Pfad gewesen zu sein. Auch er habe den Nutzer/Kunden ins Zentrum gesetzt und habe daraus abgeleitet, dass auch UX Design ins Zentrum gehöre.

Slide: Paul Adams
Slide: Paul Adams
Slide: Paul Adams

Irgendwie hat er recht. “UX/CX & HCD sind nur eine Disziplin unter vielen anderen und wir sollten uns nicht so wichtig nehmen und mal aufhören mit der Nabelschau.”

Irgendwie fühlt sich das aber auch falsch an. UX/CX & HCD sind nur eine Disziplin unter vielen anderen und diese Anderen sollten doch auch Kunden/Nutzer ernster nehmen.

“Wo soll ich einen Baum umarmen?” Diese Frage war schwieriger zu beantworten. Vom Gefühl her ging ich davon aus, dass es ein Baum mit einem dicken Stamm sein müsste, so dass es sich in etwa so anfühlt, wie als ich als Kind meinen Vater umarmt habe. Nur, wo finde ich einen grossen Baum. Bei uns im Quartier stehen nur junge, dünne Bäume, die unsere Stadtgärtnerei gepflanzt hat. Sie haben all die schönen alten Bäume ersetzt, die früher im Sommer so wunderbaren Schatten gespendet haben. Wo finde ich nun einen grossen Baum? Auf dem Friedhof um die Ecke? Nein, die Energien dort will ich definitiv nicht anzapfen – in meinem Bekanntenkreis gibt es schliesslich keine Exorzisten. Eine der Parkanlagen beim See musste es sein. Dort stehen noch grosse alte Bäume. Ich ärgere mich schon ein wenig, dass ich als Nutzer einer Stadt ans andere Ende derselben fahren muss, nur um einen Baum zu umarmen. Die Pärke könnten hier besser verteilt sein – nicht gerade Steuerzahler-/Kunden- /Nutzerfreundlich, diese Stadt.

Es ist vielleicht aufgefallen, dass ich von Nutzern/Kunden spreche. Ja, ich betrachte HCD, UX und CX als synonym, weil die Gemeinsamkeiten überwiegen. (Als Experience Designer sprechen wir auch nur von Software-Entwicklern, dabei unterscheiden diese sehr gerne zwischen Java-, c#- oder etwa Web-Developer.)

Es geht schliesslich um Menschen, die ein Produkt kaufen sollen und darum, ihnen das Produkt so sympathisch zu machen, dass sie unser Produkt demjenigen der Konkurrenz vorziehen und damit unseren Lohn sicherstellen. Um dies zu erreichen müssen wir:

  1. Wissen, wie Nutzer ticken
    • Also ein umfassendes Verständnis des Nutzungskontextes unseres Produktes erlangen
    • …und die Human Centered Design-Prozessschritte (Empathise, Define, Ideate, Prototype, Test) einhalten, um sicher zu gehen, dass was wir als die besten Lösungen erachten, so günstig wie möglich erforschen und, dass das was wir schliesslich liefern auch den Erwartungen der Nutzer entspricht
  2. Ganzheitlich denken
    • Business Anforderungen prüfen: Das beste Nutzererlebnis nützt niemandem, wenn das Produkt wegen zu hoher Kosten eingestampft wird.
    • Technische Anforderungen berücksichtigen: Das perfekt designte Nutzererlebnis nützt niemandem, wenn das Produkt nicht implementiert werden kann.

Ganzheitliches Design-Denken bedeutet:

  • Nutzen für Kunden und Business früh ermitteln und beweisen können, warum eine Idee funktionieren könnte oder fast wichtiger, warum sie nicht funktioniert.
  • Loslassen können: Ein geplantes schlechtes Erlebnis in einem einzelnen Schritt entlang einer Kundenerlebniskette ist manchmal auch gut genug.
  • Engineering und Entwicklung früher im Design-Prozess einbinden.
  • Menschenzentriertes Vorgehen sowohl bei Business wie auch bei Technischen Partnern facilitieren.

Ganzheitliches Design führt schliesslich auch dazu, dass wir uns, nebst den Auswirkungen unseres Produktes auf Business und Technologie, auch der Tragweite in anderen Bereichen bewusst werden. Z.B. Wenn wir ein Gerät schaffen, welches Menschen so vereinnahmt, dass sie einander kaum mehr wahrnehmen, wird sich dies auf die Gesellschaft auswirken.
Menschenzentriertes Design heisst also auch, Verantwortung für die Einwirkung auf andere Bereiche zu übernehmen.
Welche Veränderungen in Gesellschaft, Ökologie, Ökonomie und Gesundheit wollen wir fördern bzw. in Kauf nehmen (und was könnten längerfristige Auswirkungen auf Business und Image sein)?

Foto: d>

Da ist er, dieser grosse Baum beim See, dessen Marke ich nicht kenne. Die Sonne scheint, eine Ente schnattert und der Baum steht geduldig da und wartet auf meine Umarmung. Ich warte ebenfalls, bis eine Spaziergängerin mit ihrem Labrador gemächlich um die Ecke verschwindet und hoffe einen Moment für mich zu sein. Eigentlich doof, dass es mir peinlich ist einen Baum zu umarmen. Schliesslich tun das Andere ja scheinbar auch. Normal ist es trotzdem nicht.

Wie steht es denn um die Chancen von ganzheitlicherem Design? Ich habe den Eindruck, dass es viele Firmen gibt, die sich Nachhaltigkeit auf die Fahne geschrieben haben. Sie streben danach Produkte zu produzieren, die ökologisch verantwortbar sind oder streben bessere Arbeitsbedingungen für ihre Mitarbeitenden und die Arbeiterinnen ihrer Lieferanten an. Diese Bestrebungen werden jedoch in Form von Strategien von den Organisationen umgesetzt. Sozialpolitische Verbesserungen und ökologische Verantwortung werden in meiner Erfahrung kaum von Designern getrieben.
Die alltägliche Hektik rund um die Fertigstellung von Lieferobjekten, die Herausforderung Kollegen und Kolleginnen im agilen Team dazu zu motivieren, sich an einen sauberen Designprozess zu halten und das Risiko als einer abgestempelt zu werden, der Bäume umarmt, haben den Effekt, dass wir wegschauen, wo wir eigentlich genau hinschauen sollten. Ich jedenfalls bekenne mich dazu schuldig.

Ich schaue mich nochmals schnell um, ob jemand kommt und trete an den Baum heran. Herzhaft umfasse ich ihn, drücke ihn ein wenig, streichle seine raue Rinde, atme einige Male tief durch, um zu mir und zum Baum zu finden. – Es passiert nichts. Keine unendliche innere Ruhe, keine göttliche Eingebung, keinen Drang irgendwo farbige Post-It aufzukleben, kein Impuls eine lustige Zeichnung zu zeichnen und auch kein Wunsch mit einem Kunden über seine Gewohnheiten zu sprechen.

Design Thinking als Vorgehensweise Menschen in den Mittelpunkt zu stellen gibt es bereits seit über 50 Jahren, UX seit den frühen Neunzigern, daraus entstanden ist vor einigen Jahren (aus der Marketing-Ecke) CX. Disziplin und Denkart sind also bekannt. Als Designer können wir uns die Leier von der Nutzer- und Kundenzentrierung sparen. HX – Human Experience ist der logische nächste Schritt und damit könnten wir vielleicht das eine oder andere wirkliche Problem, welches wir auf dieser Welt haben, lösen oder verhindern. Bäume umarmen müssen wir dazu nicht.

… und doch frage ich mich, wie dieser Text ausgefallen wäre, hätte ich den grossen Baum am See nicht umarmt. Vielleicht so: TL;DR: Habe Baum umarmt. Hat nichts gebracht.

Ersmals veröffentlicht im Mai 2019 im Swisscom Intranet sowie auf LinkedIn

Das könnte dir auch gefallen

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *