Maskiert im Altersheim

Corona-Auflagen beim Grosmueti-Besuch im Altersheim

Ein fremder Mann, maskiert durch einen Mundschutz, betritt den Raum. „Guten Tag“, stört er mit lauter und selbsticherer Stimme.

Wir grüssen zurück, Christine und ich freundlich, Grosmueti ablehnend. Sie scheint sich zu fragen, was der mit uns zu tun hat. Sie will unser Gespräch weiterführen. Er kommt ihr zuvor. „Ich komme sie jetzt holen, Frau Fahrni.“
Sie fühlt sich bedrängt, als er an sie herantritt, springt aus dem Stuhl und eilt um den Tisch zu ihrer Tochter. „Nei, i chumme nid mit euch. Das si miner Lüüt. I gah mit ine“, sagt sie bestimmt.

Seit Corona sehen wir Grosmueti weniger. Früher sind wir spontan ins Altersheim gegangen. Heute rufe ich an, um einen Termin abzumachen. Besuche sind zwischen 14:00 und 17:00 Uhr möglich. Die Auslastung der zwei COVID-Besuchszimmer bestimmt Zeitpunkt und Dauer. Wie oft und wie lange sie besucht wird, weiss Grosmueti nicht. Sie vergisst. Vor zwei Jahren erlitt sie einen schweren Schlaganfall. Sie freut sich aber immer, uns zu sehen. Das genügt und das ist unsere Absicht.

Mittwoch, 15:25 Uhr, wir warten vor dem abgeschlossenen Eingang der Alterssiedlung. Es ist sonnig und warm für Februar und riecht nach Frühling. Vor Corona sind wir oft mit Grosmueti spazieren gegangen: Arm in Arm über Feldwege und an Bauernbetrieben vorbei. Häufig waren unsere Kinder dabei und haben Grosmueti zum Lachen gebracht. Zufrieden ist sie mit uns auf dem Bänkli am Waldrand gesessen, hat in die Sonne geblinzelt und an einem Guetzli geknabbert. Die Pflegerin kommt. Sie kontrolliert, wie wir unsere Hände desinfizieren und führt uns in den Corona-Besuchsraum. Wir sollen uns setzen, wo wir wollen, sagt sie und verabschiedet sich. Die Auswahl an Sitzgelegenheiten ist bescheiden. An zwei zusammengeschobenen Tischen stehen drei Stühle. Wir setzen uns so, dass Grosmueti näher bei ihrer Tochter sitzen wird.

Es ist still. Wir schauen uns um. Ich hatte mir einen kleinen Raum mit viel Plexiglas vorgestellt, ähnlich wie im Film, wenn Gefängnisinsassen besucht werden. Es ist der Saal der Alterssiedlung, mit einem Beamer an der Decke und einem Klavier in der Ecke. Hier wird sonst gesungen und gepredigt. Der Raum wirkt karg und kalt. Manchmal haben wir mit Grosmueti im Restaurant der Alterssiedlung Kaffee getrunken und die Sicht auf die Berge genossen. Hier schauen wir auf eine Betonwand. Ich sage nichts. Ich fühle: Christine findet diesen Ort auch bedrückend.

Ein Zischen und Rumpeln unterbricht unsere Gedanken. Wir hören die Lifttüre im Gang. „Sie kommt,“ sagt Christine, als wäre das ein Ereignis. Wir stehen auf und sehen zu, wie Grosmueti auf der anderen Seite der Glasscheiben zu uns geführt wird. Es dauert, bis sie uns erreichen. Die Pflegerin grüsst freundlich, Grosmueti geschäftig.
„Wir dürfen uns leider nicht umarmen und küssen, wegen diesem Virus“, erklärt Christine. 

Wir setzen uns. „Beim Sitzen darf die Maske abgezogen werden.“ Das steht auf dem Infozettel an der Tür, über einer Grafik von zwei Menschen mit Maske, die wiederum mit „Maskenpflicht“ betitelt ist. Die Pflegerin zieht Grosmueti fürsorglich die Maske wieder über die Nase. Wir nehmen das als Zeichen, die Maske aufzubehalten, obschon wir sitzen.
„Kann ich ihnen einen Kaffe bringen?“, fragt die Pflegerin.
Grosmueti und Christine wollen keine Umstände bereiten. Das sagen sie natürlich nicht. Ich selbst hatte gerade einen. Wir bedanken uns und verneinen einstimmig.
Die Pflegerin geht. Ich stelle fest: Kaffee wäre doch gut gewesen. Mit Kaffee dürften wir die Maske ausziehen. Der Anblick unserer Gesichter hätte Grosmueti gefreut.

Grosmueti reibt sich am Auge.
„Mi brönni die Ouge so“, sagt sie.
Wir wurden im Whatsapp-Familien-Chat darüber informiert. Es sei nichts Schlimmes.

Grosmuetis Erinnerungen an ihre Jugend sind beim Schlaganfall heil geblieben. Es sind einfache Fragen, die Christine über ihre Kindheit und die Verwandtschaft stellt. Schliesslich sagt Grosmueti: „I gloube, das isch so gsii, wenn ig nid d’Häufti vergässe ha.“
Christine wechselt das Thema: „Du hast schon bald Geburtstag – dreiundachtzig.“
„Ja, i bi scho en Auti.“ Grosmueti kichert.

Pro Besuch sind zwei Personen erlaubt. Unsere Kinder haben Grosmueti über ein Jahr nicht mehr gesehen, deshalb zeigt Christine ihren filmischen Gruss. Grosmueti glaubt, es sei ein Video Call und beginnt mit ihnen zu sprechen. Der Wunsch, sich wieder einmal zu sehen, ist gegenseitig.

„Z’rächte Oug brönnt mi grad weis nid wie.“
Grosmueti fummelt an ihrer Gesichtsmaske.
„Weil diese Krankheit die Runde macht, tragen wir jetzt Masken. Alles ist eben etwas kompliziert“, erklärt Christine.
„Isch nid eifach meh, uf dere Wäut z’sii“, sagt Grosmueti.
„Das geht auch wieder vorbei“, meint Christine.
„Ganz schlimm, das i no mit däm z’tüe ha.“ Sie meint damit das Jucken in ihren Augen.

Christine zeigt allerlei Fotos aus unserem Leben. Grosmueti gluckst vergnügt über die lustigen Fotos vom Hühnerausbrüten.

„Jetzt ist bald wieder Frühling, meine Lieblingsjahreszeit,“ sagt Christine.
„Herbst isch o geng schön“, meint Grosmueti.

„Jetzt brönnt mi da das Oug eso. Das isch nid luschtig.“
Ich kann das nachempfinden und erzähle von meinem Heuschnupfen.
„Öppis mues me äuä ha, das me nid z’gross wird.“

Fragen verunsichern Grosmueti, deshalb erzählt Christine. Ihr Umgang mit Grosmueti beeindruckt mich.

„Danke viu mau, für aus, wo du da tuesch“, sagt Grosmueti und deutet auf die Bisquits, die wir ihr mitgebracht haben.
„Das ist schon gut. Ich mach ja nicht viel.“
„Mou!“

Die halbe Stunde ist um. Der unbekannte Mann mit Gesichtsmaske besteht darauf, Grosmueti mitzunehmen. Sie will nicht alleine mit diesem Fremden mit und hakt sich bei Christine ein. Sie gehen zum Lift. Ich folge ihnen und freue mich: Jetzt haben sie doch noch etwas Körperkontakt. 

Wir stehen vor der geschlossenen Lifttüre. Jetzt wird es schwierig: Christine darf nicht mit auf die Abteilung. Grosmueti will nicht allein mit dem fremden Mann in den Lift steigen.

Die Lifttüre öffnet sich.

„Ah, da sind sie ja, Frau Fahrni. Wir haben sie schon vermisst“, sagt die freundliche Pflegerin. Grosmueti erkennt sie und steigt zu ihr in den Lift.

Draussen blicken Christine und ich auf die Berge. Die Sonne wärmt unser Gesicht.

„Wie geht es dir?“, frage ich.
„Es scheint ihr besser zu gehen, als ich befürchtet habe.”
„Und, wie geht es dir?“

Das könnte dir auch gefallen

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *