Als Schmutzli in die Stiefel des Sankt Nikolaus schlüpfte

Es nachted scho und s`schneieled,
du liebi Zyt, ganz grüsli,
de Chlaus leid jetzt sin Mantel aa,
und bschlüsst druf no sys Hüüsli.
Er holt de Schlitte us em Schopf,
spannt sEseli gschwind aa,
und laded d` Seck und d`Ruete uuf,
won är für d`Chind mues haa.
Hü Trämpeli, seid är,
sisch Ziit,de Wäg is Städtli isch no wiit.
Mier händ hüt Abig gar vill ztue,
hü, Trämpeli, lauf artig zue.
Wie sind die Seck so dick und schwär,
wer chund ächt d` Ruete über, wer?
De Chlaus weiss alles ganz genau,
drum, Chinde, bitte, folgid au.

Schmutzli verfluchte den Schnee, der unter seinen alten Stiefeln knirschte.
Er verfluchte das Dunkel des Waldes, die scheiss Kälte, die durch seine löchrigen Handschuhe schlich und den alten Esel, den er durch die Nacht zerren musste. Vor ihm ging in beschwingtem Schritt der Sankt Nikolaus in seiner warmen Robe und seinen glänzenden Stiefeln. Er hörte ihn leise und vergnügt summen. Die Melodie von Pink Floyd, – Another Brick in the Wall.
“Schmutzli, komm wir singen. Das hilft gegen die Kälte und hält bei Laune!”, rief Sankt Nikolaus über die Schulter. Aus seinem Summen wurde Text. Nicht etwa das Original von Floyd, oh nein, die Cover-Version, die der Sankt Nikolaus vor über dreissig Jahren irgendwo in England aufgeschnappt hatte und seither lustig fand. – Jahr, für Jahr, für Jahr:
“Christmas Turkey, you can stuff it,
Roast potatoes, sprouts and all.
Useless geezer, father christmas,
He got stoned and lost control.
Hey santa, “huah”, leave the booze alone!
Drunk so much that he drove his sleigh through the wall”
Baron Knights, hiess die Gruppe, die damals bei den Weihnachtsshows der Beatles Support war und dieses inzwischen nicht mehr so lustige Cover hervorgebracht hatte.
Schmutzli sang nicht mit. Das Lied hing ihm zum Hals raus. Er konnte nicht mehr mitmachen. Jedes Jahr, immer wieder das gleiche: Der störrische, stinkende Esel, die Kälte, die kleinen Rotznasen, die sich nur für den Sankt Niklaus, den blöden Esel und das Säcklein mit den Erdnüssen und der billigen Schokolade interessierten. Es war ihm schon lange zu viel, aber die scheiss gute Laune seines Chefs war das, was ihn in letzter Zeit am meisten nervte. Immer wieder: “Hohoho!”, dabei gab es nichts zu lachen. Meistens war es kalt und schneite oder regnete.

Die Zeiten, wo es an den Waldweihnachten Glühwein gab waren vorbei. Die wenigen Anlässe, welche die Kirchen im Advent noch hielten waren sparsam gehalten. Trockene Mailänderli und wässriger, lauwarmer Apfelpunsch waren die Regel. Ihre Entlöhnung deckte kaum die Spesen, und Frauen konnte er dort auch keine kennenlernen. Auch wenn er manchmal die eine oder andere hübsche Grossmutter dabei ertappte, wie sie ihn interessiert musterte. Das hätte der Sankt Nikolaus nie gebilligt. Nein, der Schmutzli war der undekorative Helfer seiner schillernden Hoheit Sankt Nikolaus. Schmutzli hatte die Nase wirklich voll. Hatte sich schon überlegt wo anders anzuheuern. In Australien zum Beispiel, da feiern sie Weihnachten im Sommer. Wenn er sich nur die Reise leisten könnte, aber eben, bei dem Gehalt lag das nicht drin. Er hatte Glück, wenn er und sein Eselchen in ihrer bescheidenen Hütte im Wald durch den Sommer kamen. Vom Herrn Sankt Nikolaus war nämlich vom 24. Dezember bis am ersten Advent nichts zu sehen oder zu hören. Er sagt er sei an Weihnachten jeweils mit dem Schlitten unterwegs und verteile Geschenke an arme Kinder. Was der in den Kindern sah, war Schmutzli ein Rätsel. Er hatte jedenfalls die Nase voll von den frechen, kleinen Bengeln und den ängstlichen Hosenscheissern. An Weihnachten sowieso, wenn sie im Dauerzustand ihres “Zuckerflashes” um jedes erdenkliche Spielzeug quengelten.

In seinem Groll schaute Schmutzli nicht mehr allzu genau auf den Waldboden vor ihm. Das hätte er jedoch tun sollen, denn sie hatten den Weg verlassen und schritten quer durch den finsteren Wald. “Verdammte Scheisse!”, entfuhr es dem Schmutzli als er in eine gefrorene, abgebrochene Wurzel trat, die ihm halbwegs die Sohle vom Stiefel trennte. Sankt Nikolaus hielt an.
“Bist heute noch schlechter gelaunt als sonst”, bemerkte er ruhig.“
Ich habe mir den Fuss gestossen. Das tut höllisch weh. Jetzt ist meine Sohle kaputt und die scheiss Kälte schmerzt noch mehr an meinem scheiss Fuss.”
“Aber, aber”, beschwichtigte Sankt Nikolaus, “so schlimm ist das doch nicht. Wir schauen morgen für neue Stiefel für dich. Denk jetzt einfach an die lieben Kinder, die wir gleich glücklich machen.”
“Scheiss Kinder. Ich mag das alles nicht mehr. Ich höre auf. Du kannst dir einen anderen suchen”, sagte Schmutzli und versuchte den Esel dazu zu bringen sich in die Richtung zu drehen aus der sie gekommen waren.
Sankt Nikolaus schaffte es, ernst zu schauen und gleichzeitig gütig zu lächeln: “Das habe ich gemerkt, du bist in letzter Zeit sehr grimmig und unmotiviert. Ich mache dir ein Angebot.”
“Nein. Diesmal nicht!”, sagte Schmutzli, “Du kannst mich nicht mit einer Flasche Rum kaufen.”
“Nein, ich mache dir ein anderes Angebot.”
Schmutzli tat, als würde er ihm nicht zuhören und zerrte den Esel, der sich endlich gedreht hatte in den dunklen Wald. Es war schwierig etwas zu erkennen, ohne die Laterne vom Sankt Nikolaus und er war sich nicht mehr sicher, ob er den Weg zurück finden würde. Um den Anschein zu erwecken immer noch wegzulaufen, machte der Schmutzli kleinere Schritte. So konnte er trotzdem noch das Angebot des Sankt Nikolaus hören.
“Ich biete dir meine warmen Kleider samt Stiefeln an. Morgen schauen wir dann weiter.”
Schmutzli fror und hatte keine Ahnung in welche Richtung er gehen sollte. Der Esel sperrte sich in alle Richtungen. Die warmen Stiefel, der Mantel und die Mütze mit den Felleinlagen waren schon eine verlockende Vorstellung. Jedenfalls besser als die Aussicht alleine im Wald umherzuirren. Dann war noch die Aussicht mal der Star des Anlasses zu sein. Die Laterne halten zu dürfen und den Kindern einen Schrecken einjagen. Ihm gefiel auch die Vorstellung, dass der fette Sankt Nikolaus den ganzen Abend in seinem engen und löchrigen Mantel rumlaufen müsste. Dem würde das Singen und Lachen bald vergehen bei der Kälte. Ja, er würde es machen.
“Wir tauschen Mantel, Hose, Stiefel und Mütze?”, vergewisserte sich Schmutzli.
“Natürlich”, sagte Sankt Nikolaus in wohlwollender Stimme.
Schmutzli schritt zurück zum Licht der Laterne und der Esel tänzelte hinterher. Sankt Nikolaus zog seine Stiefel und Hose aus. Seine dünnen Beinchen steckten in langen, verwaschenen, rosaroten Unterhosen. Er hüpfte auf dem gefrorenen Schnee von einem Fuss auf den Anderen. Seine löchrigen Socken schienen die Kälte durchzulassen. Schmutzli nahm sich ein wenig mehr Zeit als nötig gewesen wäre um sich seiner eigenen Stiefel und Hose zu entledigen. Dann zog er die edle, Fell gefütterte rote Hose über seine haarigen Beine und griff nach den glänzenden schwarzen Stiefeln. Sankt Nikolaus holte Luft, als wolle er etwas sagen. Schmutzli hielt inne und schaute Sankt Nikolaus herausfordernd an. Sankt Nikolaus schien einen Vorbehalt abzuschütteln und nickte Schmutzli zu. Die Stiefel waren wärmer, als von dem dünnen Leder zu erwarten gewesen wäre und passten perfekt. Dies obschon Schmutzli immer gedacht hatte der Sankt Nikolaus hätte viel die grösseren Füsse als er. Den Mantel zogen sie gleichzeitig aus. Schmutzli musste gerade heraus lachen. Der Sankt Nikolaus war gar nicht so fett, wie er immer gedacht hatte. Der trug unter seinem Mantel einfach Pulli über Pulli über Pulli. Sankt Nikolaus schaute etwas verlegen und streckte seine Hand nach Schmutzlis Mantel aus. Der ging wie vorausgesagt nicht zu.
“Du musst mir ein paar deiner Pullis abtreten. Sonst ist mir dein Mantel zu gross und du bringst den meinen nicht zu”, forderte Schmutzli etwas spitzbübisch.
Sankt Nikolaus zog den obersten Pullover aus. Es war ein löchriger, roter Wollpullover, der aussah als hätte er ihn selbst gestrickt. Er legte ihn auf den Esel. Ein aus der Form geratenes abercrombie and fitch Jäckchen war zum Vorschein gekommen. Er legte es ebenfalls über den Esel. So streifte er fünf Schichten ab, bevor er Schmutzlis Mantel zubrachte. Schmutzli zog sich die abgelegten Pullis in der gleichen Reihenfolge an, wie sie Sankt Nikolaus getragen hatte. Langsam wurde ihm wohlig warm. Zum Schluss knöpfte er den flauschigen, weichen Mantel zu, streifte sich die Mütze über und schnappte sich die Laterne.

Obschon er keine Ahnung hatte, wo sie hinmussten, schritt er zuversichtlich aus und überliess den Esel dem Sankt Nikolaus. “Mit den richtigen Stiefeln auf dem richtigen Pfad kommt man überall hin, wenn man sich traut”, pflegte Sankt Nikolaus zu sagen. So ergab sich Schmutzli der Illusion, dass ihn die Stiefel des Sankt Nikolaus zu ihrem heutigen Engagement führen würden. Der Sankt Nikolaus würde schon reklamieren, wenn er den falschen Weg einschlug. Ab und zu drehte sich Schmutzli um, um sich zu vergewissern, dass Sankt Nikolaus und der Esel noch hinter ihm waren.

Der Alte war still geworden und hatte mit der blöden Singerei aufgehört. Sankt Nikolaus schien nachdenklich, gar etwas nervös. Schmutzli war versucht selbst ein Lied anzustimmen. Vielleicht etwas anderes von Pink Floyd oder gar eine Led Zeppelin Nummer? Wenn er sich doch nur an einen Text oder eine Melodie erinnern könnte. Die Stille hinter ihm beunruhigte ihn und er war froh, als er die Lichter der Waldweihnacht in der Ferne erblickte. Sie gelangten auf einen breiten Waldweg und schritten zügig voran.

Kinder rannten ihnen entgegen. Sie riefen ihm zu:
“Sankt Nikolaus! Sankt Nikolaus!”
“Ho, ho, ho!”, ertönte eine dünne Stimme hinter ihm.
Schmutzli erinnerte sich plötzlich seiner Rolle: “HO! HO! HO”, dröhnte Schmutzlis Stimme. Er erschrak etwas ab deren Volumen. Seine Stimme schien von seinen Zehen aus über seinen Bauch zu seinem Kehlkopf Kraft zu schöpfen.

Kinder gross und klein umzingelten und begleiteten sie mit ihrem Gelächter ins Licht der Fackeln und Finnenkerzen. Schmutzli lachte mit. So schlimm waren die Kinder heute gar nicht. Schmutzli hielt, wie vorgesehen, in der Mitte der Kreuzung der beiden Waldwege an.
“Wer will dem Sankt Nikolaus etwas erzählen?”, donnerte seine Stimme über die Köpfe der versammelten Gesellschaft.
Die Kinder umringten ihn und brannten darauf ihm ihr Versli in ihrem entzückenden Schweizerdeutsch vorzutragen. So nahe an den Kindern dran war es ein ganz anderes Erlebnis. Ein etwas grösseres Mädchen wagte es als erstes an ihn heran zu treten. Schmutzli lächelte sie an: “So, junge Dame. Was hast du mir zu berichten?”
“Ich wollte fragen, warum dein Bart so schwarz ist und der des Schmutzlis so weiss.”
“Scheisse, die Bärte!”, dachte sich Schmutzli, “Die haben wir vergessen.”
Er schaute zum Sankt Nikolaus, der sich in einiger Entfernung mit dem Esel und dem Sack zum Verteilen der Erdnüsse aufgestellt hatte. Trotz dem weissen Bart und seinem roten Gesicht, das aus dem Dunkeln der Kapuze schimmerte, war er eine düstere Erscheinung in der finsteren Gewandung. Schmutzli überlegte sich kurz, wie er wohl jeweils wirkte, mit seinem grimmigen Blick dazu. Kein Wunder kamen die Kinder nie zu ihm. Die hatten doch Angst.
Zum Mädchen sagte er und deutete zum Sankt Nikolaus: “Weisst du, der Sankt Ni…, ööh, der Schmutzli, der ist schon sehr, sehr alt.”
“Älter als du, Sankt Nikolaus?”
“Nein, nein. Nicht ganz so alt wie ich.”
“Dann hast du deinen Bart gefärbt?”
Schmutzli lächelte ab der Vorstellung und flüsterte zu ihr: “Ja. Aber psst, das ist unser Geheimnis. Willst du mir jetzt ein Versli aufsagen?”
Das Mädchen holte tief Luft:
“Samichlous, du liebe Maa,
Mues I jetzt go füre stah?
Gäu du bisch nid bös mit mir,
Weisch I ha chli Angscht vor dir.
Gfolget hani scho nid immer,
S’git no Sache, die si schlimmer.”
An jedem anderen Abend hätte der Schmutzli das Mädchen als freche, kleine Göre bezeichnet. Heute Abend sah er das aber anders: “Nein, nein, die Rute kriegst du nicht. Du bist ein aufgewecktes Mädchen. Mit deiner selbstsicheren Art kannst du dich für andere einsetzen, auch für schwächere, wie die kleine Sophie aus deiner Klasse, die immer alleine ist.”
Schmutzli hatte keine Ahnung, warum er letzteres gesagt hatte. Er war sich nicht mal sicher, ob er es gesagt hatte. Er kannte keine Sophie aus der Klasse des Mädchens. Das Mädchen strahlte ihn jedoch an als wäre nichts Ausserordentliches vorgefallen und machte Platz für das nächste Kind. Es war noch kein Jahr alt und schaute ihn mit grossen, interessierten Augen an. Es fühlte sich sicher in den Armen seiner Mutter. Den Schmutzli durchfuhr eine Ahnung von Wohlsein, Wärme und Geborgenheit. Durch den Jungen erlebte er das Wunder des verschneiten Waldes im Licht der Fackeln neu und spürte die Faszination des Jungens für den Sankt Nikolas als wäre er selbst der kleine Junge. Er roch eine feine Note von Muttermilch und es wurde ihm bewusst, wie gross und fremd die Welt um ihn wirklich war.
Seine Füsse kribbelten in den Stiefeln des Sankt Nikolaus. Das Kribbeln bereitete sich durch seinen ganzen Körper aus und er brummte dem Kleinen etwas wie, “Du bist ein süsser kleiner Bengel”, zu und liess ihn nach seiner Rute greifen.

Die Kinder kamen und Schmutzli hörte ihre Verse und gab ihnen Ratschläge mit auf ihren Lebensweg, ermahnte sie zu mehr Vorsicht beim Klettern auf Bäume oder beim Spiel neben der Strasse. Komischerweise wusste er von jedem Kind den Namen und seine Lebensgeschichte. Die Eltern standen hinter ihren Kindern, und blickten stolz auf ihre Sprösslinge, versuchten mit ihren Telefonen unterbelichtete Erinnerungsfotos zu schiessen oder hüpften ungeduldig von einem Bein aufs andere, weil sie rechtzeitig wieder zu Hause sein wollten um ihre Lieblingsserie zu schauen. Sie und die älteren Kinder liess er gänzlich im Dunkeln über sein plötzliches Wissen von ihren privatesten Einzelheiten, ihren Ängsten, Wünschen und Hoffnungen.

Zu vielen der Kinder sprach er für alle hörbar die gewohnten Floskeln des Sankt Nikolaus und mit einer inneren Stimme, von der er wusste, dass die Kinder sie hörten, zeigte er ihnen, wie sie ihr Leben besser meistern könnten oder ermutigte sie, über sich hinaus zu wachsen. Einigen Kindern sagte er, sie sollen weniger frech zu ihren Eltern sein, andere ermutigte er den Eltern auch mal zu widersprechen. Von vielen liess er sich einfach nur bestaunen. Der falsche Sankt Nikolaus hatte einen richtig schönen Rhythmus gefunden. Er gab den Kindern, ohne das Wissen ihrer Eltern, was sie am meisten brauchten und schickte sie anschliessend zum falschen Schmutzli, wo sie ihr Säcklein mit den Erdnüssen abholen konnten. Plötzlich stand ein Knabe mit braunen Locken und grossen blauen Augen vor ihm. Er betrachtete den Sankt Nikolaus ängstlich und sprach sein Verslein:
“Samichlaus du guete Maa,
ändlich bisch du wieder da.
Chunsch cho luege,
was ich mache,
wie ich spiele, singe und lache.
Tuesch mi lehre,
s’ Härz zverschänke und e chli a anderi dänke.
Nur so bin ich sälber froh
Und s Christchind cha zumer cho.“

“Das ist ein schönes Verslein”, sagte Schmutzli.
“Bekomme ich jetzt die Rute?”, fragte der Kleine ängstlich.
“Nein”, sagte Schmutzli, “du kannst beim Schmutzli, beim Eselchen drüben ein Säcklien holen.”
Er konnte den Jungen nicht lesen, wie die anderen Kinder. Spürte nur seine Angst. Als der Junge einfach stehen blieb, tat er etwas, was er den ganzen Abend nicht getan hatte. Er zog den weissen Handschuh des Sankt Nikolaus aus, lächelte dem Jungen zu und berührte seine Wange. Es durchfuhr ihn wie ein Blitz. Der Junge hiess Vincent. Er war sechs Jahre alt. Seine Mutter hatte ihn mit den Nachbarn mit an die Waldweihnacht gehen lassen. Sie schaute zu Hause alleine Fern und weinte. Der Junge hatte Angst. Nicht nur vor ihm. Vor der Trauer und Verzweiflung seiner Mutter. Vor den Launen seines Vaters, der meist spät in der Nach nach Hause kam und rumschrie. Davor, dass seine Mutter dann noch mehr weinte. Er spürte die Angst vor dem Geruch des Vaters, wenn er den Gürtel aus seiner Hose zog, ihm die Seine runter zog und ihn schlug bis er nicht mehr schreien konnte. Ihn schlug, weil er seine Lego in der Stube hatte rumliegen lassen oder weil er die Mutter trösten wollte, während der Vater sie anschrie. Schmutzli fühlte den Funken Liebe, die der Junge für seinen Vater verspürte und die grosse Verzweiflung, es ihm nie recht machen zu können. Er wusste von seinem Glück, als er am Geburtstag mit seiner Mama und seinem Papa in den Tierpark gegangen war und sein Vater mit ihnen gelacht hatte. Die geballte Ladung Emotionen, die auf den Schmutzli eindrosch, hatte ihn buchstäblich umgeworfen.

Als er wieder zu sich kam, lag er benommen im Schnee. Der Sankt Nikolaus war hinzugeeilt und wollte ihm auf die Füsse helfen. Schmutzli winkte ab. Zittrig stand er auf. Er fühlte, wie sich ein Knoten in seinem Hals bildete. Er war den Tränen nahe und atmete die kalte Winterluft tief in sich hinein. Einige der Leute um ihn kicherten. Andere schauten besorgt. Er konzentrierte sich auf seine Füsse und darauf, ob ihm die Stiefel des Sankt Nikolaus helfen würden. Aus den Stiefeln durchströmte ihn langsam wieder eine wohlige Wärme. Instinktiv griff er in die tiefen Taschen des Mantels des Sankt Nikolaus und fand dort einen kleinen, runden Gegenstand an einer Kette. Er war überzeugt, dass das der Gegenstand zuvor nicht da gewesen war. Er versteckte ihn in seiner Hand und beugte sich erneut zum kleinen Jungen nieder. Der hatte sich immer noch nicht gerührt und starrte ihn erschrocken an. Mit der einen Hand griff er seine Schulter, mit der anderen schlüpfte er unbemerkt die Taschenuhr in die Jackentasche des Jungen. “Alles in Ordnung. Geh hol jetzt dein Säcklein“, sagte er mit ruhiger Stimme.
Der Rest würde sich geben. Das Leben des Jungen, der es seinem Vater nie recht machen konnte, würde sich in den nächsten Tagen ändern. Der Junge würde die Taschenuhr seinem Vater schenken und dieser würde in Tränen ausbrechen. Die Taschenuhr würde ihn an seinen eigenen Vater erinnern. Daran, wie er als sechsjähriger mit genau dieser Uhr gespielt hatte, obschon ihm das verboten war. Daran, wie er sie, vertieft im Spiel, verlegt hatte und sein Vater deshalb immer wieder mit dem Gürtel auf ihn losgegangen war. Er würde sich daran erinnern, wie er Wochenlang im Haus, im Garten und im nahegelegenen Wald nach der Taschenuhr gesucht hatte und wie ihn sein Vater weiterhin prügelte. Wegen der Taschenuhr, weil er spät nach Hause gekommen war oder weil der Vater einfach zu viel getrunken hatte. Vincents Vater würde die Taschenuhr wieder und wieder untersuchen und liebevoll mit dem Daumen über die Inschrift fahren. “Hans-Ulrich zur Konfirmation 1934”, stand da in geschwungenen Lettern. Derselbe Hans-Ulrich, den er vor fünf Jahren, emotionslos begraben hatte. Er würde es akzeptieren, dass sein Sohn ihm keine schlaue Antwort gab, woher er die Taschenuhr hatte. Er würde aufhören Sohn und Frau zu schlagen und mit dem Trinken aufhören. Er wollte nicht so enden wie sein Vater, emotionslos begraben. Er wollte nicht, dass sein Sohn so endete wie er.
Schmutzli wusste dies alles, als wäre es genauso natürlich in die Zukunft zu blicken, wie in die Vergangenheit fremder Menschen zu schauen. So fuhr er fort, aus den Seelen der verbleibenden Kinder zu lesen und sie mit dem zu befüllen, was sie am dringendsten nötig hatten. Bis alle Kinder ein Säcklein hatten und es an der Zeit war mit dem falschen Schmutzli wieder in den dunklen Wald aufzubrechen.
Schmutzli war müde und seine Füsse brannten. Die vielen Emotionen, die auf ihn eingeprasselt waren, hatten seine eigene Seele erschöpft. Er wusste jetzt den Unterschied zwischen dem richtigen Sankt Nikolaus und den Heerscharen von “Turn- und Wanderschuh-Kläusen”, wie sie Sankt Nikolaus nannte. Einige Kinder winkten ihnen zum Abschied. Schmutzli stapfte hinter Sankt Nikolaus und dem Esel her.

Sie gingen eine Weile durch den Wald. Sankt Nikolaus blieb stehen und fragte, wie er es erlebt hatte. Schmutzli zog sich wortlos aus. Sankt Nikolaus nickte verständnisvoll, zog sich ebenfalls aus und so tauschten sie abermals ihre Kleidung. Als Schmutzli dem Nikolaus die Stiefel überreichte und seine eigenen Löchrigen entgegennahm, bemerkte er einen Anflug von Enttäuschung im Ausdruck des Sankt Nikolaus. Er wollte ihm sagen, dass es ihm leid tat, wie er in den letzten Jahren über ihn und die Kinder gedacht hatte und dass es ihm leid tat, dass er ihn nie wieder in seiner Rolle als Sankt Nikolaus vertreten wollte. Schmutzli fand aber die richtigen Worte nicht mehr und schlüpfte wortlos in seine kalten, löchrigen Stiefel. Dann riss am Halfter des Esels und stapfte hinter dem nervig summenden Sankt Nikolaus durch den gefrorenen Schnee. Manche Dinge, egal wie beschissen, sind wohl einfach gut so, wie sie sind.

Dr Schmutzli und dr Samichlous,
die träffe sich im dunkle Wald.
dr Schmutzli und dr Samichlous,
si chöme baud, si chöme baud!

Die zwe wo zäme syt tuusig Jahr,
beglücke jedi Chinderschaar.
Es freut sich gross,
es freut sich chlii.
Si chöme glii,
si chöme glii.
Dr prächtig Mantu,
die schwarze Stiefle,
dr Schmutzli tuet im Sack inne nifle.
Seckli gits für alli eis.
Für das macht jede gärn e Reis.
Doch z’Wort vom Chlous isch das wo zeut,
das wo üs im Harze giut.
Wie mir si und wie mir wärde,
wie mir üs söua gebärde.
De Alte, dene seit är’s nümm,
die mieche nume no meh Gschtürm.
Die gloube nid u wei nid lose,
drbi hei si nume dr Kack I de Hose.

Dr Schmutzli und dr Samichlous,
die träfe sich im dunkle Wald.
Dr Schmutzli und dr Samichlous,
si chöme baud, si chöme baud!

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