DIE WEENS VOM WALD

“Ich könnte jetzt einen HubbaBubba, eine Nimm2 oder Mini-Toblerone naschen, wenn ich nicht so eine doofe Mutter hätte”, dachte sich Tim. Tim liebte sie alle. Er liebte Chupa-Chups, Cola-Frösche, Trolli, Gummibärchen, Saure-Ringe aller Art, Lachgummis und Lakritz. Schon nur beim Gedanken an Ragusa, Bounty, Twix und Schoggistängeli lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

Tims Mutter war im Grunde gar nicht so doof. Seine Mutter war einfach eine vegane Ernährungsberaterin mit Fitnesswahn und ging mit ihren Mitmenschen gleich streng um, wie mit sich selbst. Das war in Ordnung, denn sie war keine Scheinheilige – lebte vor, was sie predigte. Es war einfach ein unglücklicher Umstand, dass Tim, mit so einer Mutter, so gerne Süsses mochte.

Tims Mutter war sich ihrer hohen Erwartungen bewusst und strengte sich an, ihren Sohn nicht zu kurz kommen zu lassen. So schnitzte sie jeden Morgen lustige Tierfiguren aus Obst und Gemüse für Tims Znünibox. Tim fand das kindisch und tauschte die herzigen Figuren auf dem Schulweg jeweils mit Kindern eines jüngeren Jahrgangs gegen Milchschnitten, Chips, Nussini und dergleichen.

Das letzte Werk von Tims Mutter lag zusammengeknüllt in der Ecke seines Zimmers. Es war Halloween. Tim hatte auch auf die Jagd nach Süssem oder Saurem gehen wollen. Schon seit Wochen war er seiner Mutter deswegen in den Ohren gelegen und hatte sie bekniet, ihm das coole Batman-Kostüm aus dem Coop zu kaufen. Seine Mutter hatte irgendwann zu lächeln begonnen und in ihm die Hoffnung geweckt, sie hätte die überteuerten, synthetischen und giftigen Lumpen aus Kinderarbeit – so hatte sie das supertolle Kostüm genannt – doch noch gekauft. Stattdessen hatte sie jedoch abends und nachts heimlich genäht und gestrickt, um Tim zu überraschen. Am späteren Nachmittag des 31. Oktobers hat sie ihm das selbstgemachte Kostüm feierlich überreicht. Zaghaft hatte er es angezogen und sich im grossen Spiegel im Schlafzimmer seiner Eltern angeschaut. Seine Mutter lächelte ihm aus dem Spiegel zufrieden zu. Er konnte nicht mal so tun als hätte er Freude. Die Hosen waren zu kurz und zu weit, das Oberteil zu eng und kniff unter den Armen. Die aus schwarzer Wolle gestrickten Handschuhe sahen aus wie normale Handschuhe und hatten keine von diesen coolen Zacken am Unterarm. Das Cape aus der schwarz gefärbten Bettwäsche war viel zu klein und hing steif an seinem Rücken. Das Muster mit den Teddybären und den Herzen schimmerte durch. Das Schlimmste aber war die Maske. Die hatte seine Mutter ebenfalls aus Wolle gestrickt. Die teure Bio-Wolle biss und kratze, die Aussparungen für die Augen waren viel zu gross und sahen überhaupt nicht aus wie die gefährlich aussehenden Schlitze vom Originalkostüm. Und diese Ohren! Statt kurz und spitz nach oben zu zeigen, baumelten sie wie grosse Hundeohren nach unten.
Nein, Tim war nicht begeistert gewesen, noch viel weniger von der Idee, dass er mit Mutter und Vater an Halloween durchs Dorf spazieren sollte.
Tim bereute es, dass er so getobt und geschrien hatte. So sehr hatte er seine Mutter geärgert, dass sie ihn gleich ohne Abendessen ins Zimmer geschickt hatte. So lag er jetzt hungrig im Bett, während die anderen Kinder draussen, als Grusliges und Garstiges verkleidet, von Tür zu Tür gingen, sich mit Süssigkeiten vollstopften, Leute erschreckten und Spass hatten.

Draussen war es schon lange dunkel. Aus dem Wohnzimmer hörte er den Fernseher. “Jetzt, wo ich das blöde Zeugs für Tim nicht mehr nähen muss, können wir uns einen Fernseh-Abend gönnen und endlich mit Game of Thrones weiterfahren”, hatte seine Mutter dem Vater gesagt, als sie die Tür zu seinem Zimmer zuknallte.
Tim hatte sich in seinem Bett zusammengerollt und ein wenig geweint. Dann war er ans Fenster gegangen und hatte sehnsüchtig auf die im Feld endende, kleine Strasse geschaut. Da war aber nichts los und so war er zurück ins Bett gegangen. Schlaf würde diesem traurigen Abend ein Ende setzen. Wenn er dann am nächsten Morgen aufwachte, war alles vorbei. Er konnte dann seine Haferflocken mit Mandelmilch und Apfelschnitzen essen und in die Schule verschwinden. Die Schulkollegen würden von ihren Halloween-Abenteuern erzählen.

Tim versuchte schnell einzuschlafen. Vergeblich, denn sein Magen knurrte. Nein, sein Magen klopfte. Nein, es klopfte woanders. Etwas klopfte leise, aber entschlossen an sein Fenster. Tim sprang aus dem Bett und schaute nach. Da war niemand. Ob ihn seine Schulkollegen abholten? Aber die wussten ja gar nicht, dass er mit ihnen raus wollte. Er war neu hier im Dorf und hatte nichts abgemacht, denn er hatte damit gerechnet, dass die doofe Mutter ihm einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Er war mit seiner Familie erst dieses Jahr in das Haus am Ende der Sackgasse gezogen. Tim starrte durch das Fenster in die Nacht. Sein Zimmer schaute auf ein grosses Feld vor einem grossen dunklen Wald. Da schien sich etwas zu bewegen. Dunkle Gestalten stapften im fahlen Licht des Mondscheins über die gefrorene Erde des Ackers. Er presste seine Stirn gegen das kalte Glas. So sah er auch nicht mehr. Plötzlich erschien ein bleiches Mädchengesicht direkt auf der anderen Seite der Scheibe. Tim schrie vor Schreck kurz auf. Ihre riesigen Augen leuchteten weiss im Mondschein, ihr zartes Antlitz schimmerte bläulich. Ihre langen verfilzten Haare reichten bis auf die nackten Schultern. Ein rotes Band mit einem kleinen Glöckchen zierte ihren dünnen Hals, der knochigen Schlüsselbeinen entspross. Mit ihren grossen Augen und fahlen Lippen lächelte sie Tim zu und winkte ihm mit dürren Händchen mit ihr zu gehen. Er kannte das Mädchen nicht. Vielleicht war sie auch neu hier. Tim hat sich augenblicklich in das Mädchen verliebt. Wow! Dieses Lächeln, dieses perfekte Kostüm! Wie in einem Traum nickte er ihr zu und stürzte sich samt Pyjama in das selbst gestrickte Batman-Kostüm. Durch die Türe zur Stube hörte er Geräusche von Kampf und Krieg. Seine Eltern würden nichts hören, und er würde schnell wieder zurückkommen. Er öffnete das Fenster und liess sich fallen. Sein schwarzes Batman Cape wehte hinter ihm als er auf den Rasen vor seinem Fenster sprang und und legte sich elegant um ihn als seine Wollsocken das kalte Gras berührten. Das Mädchen mit den grossen Augen reichte ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen. Tim, der in gekonnter Batman-Pose ein Knie am Boden hatte, nahm sie und drückte ihr einen Kuss auf den Handrücken. Dann erhob er sich, während das Mädchen kicherte.
“Ich bin Anna”, sagte sie.
“Ich heisse Tim”, erwiderte Tim und wurde plötzlich verlegen wegen seiner Wortkargheit. „Ich Tarzan, hätte ich genauso gut sagen können“, dachte er sich.
Anna nahm Tim an der Hand und sie gingen zusammen auf die Strasse. Die dunklen Gestalten, die Tim hatte vom Wald her kommen sehen, waren in seiner Strasse angelangt. Es waren auch Kinder und sie hatten die tollsten Kostüme. Unbeirrt schritten sie still und jeder für sich in Richtung Dorfplatz. Die taten das sehr gekonnt. Da gehört das Benehmen genauso zur Show, wie die Kostüme, dachte sich Tim. Anna und er schritten in dieselbe Richtung los. Vor ihm schlurfte ein Knabe in Lumpen, ein Zombie-Makeup vom feinsten. Seine Füsse waren ganz nackt auf dem kalten Asphalt und Tim hätte schwören können, er hätte vorhin durch das Loch in seinem Rumpf das Licht einer Strassenlampe durchschimmern gesehen.
“Wer macht denn euer Make-Up und eure Kostüme?”, fragte er Anna.
“Das machen wir alles selber.”
Sie drückte seine Hand etwas fester. Es fiel Tim erst jetzt auf, wie kalt sie war. Sie mussten weit gelaufen sein, um so kalt zu sein.
“Woher kommt ihr eigentlich?”, erkundigte sich Tim.
Er erhielt keine Antwort, denn sie standen unterdessen vor einer Haustüre. Schritte dahinter verkündeten, dass ihr Klingeln gehört wurde. Die Türe wurde aufgerissen. Eine Frau in einem türkisfarbenen Trainingsanzug kaute etwas Grosses. Im Hintergrund plärrte ein Fernseher. Als sich ihre Augen in der Dunkelheit auf ihren Besuch fokussiert hatte, schien sie zu erschrecken.
“Och mein Gott, wie seht denn ihr aus!”, meinte sie mit hoher Stimme.
“Gib uns Süsses sonst gibt’s Saures!”
Tim hatte als einziger den Halloween-Spruch gerufen.
“Ja, klar”, meinte die Frau, “ich hol gleich was.”
Sie verschwand im Lärm des Fernsehprogramms. Tim schaute sich reihum seine Gefährten an. Einer der Jungen schien als Geist verkleidet zu sein. Er war kreideweiss geschminkt und trug ein einfaches Spital-Hemd über seiner nackten Haut. Ein anderer Junge, ebenso bleich, trug einen Anzug aus den Siebzigerjahren und die Haare in einer strengen Gel-Scheitel. Blutspritzer zierten sein weisses Hemd. Auch sein Mund war blutverschmiert. Dann war da dieses Mädchen im rosaroten Kleid mit der rosaroten Schleife in den Haaren. Tim hatte Mühe sie anzuschauen. Sie hatte riesige dunkle Ringe um ihre Augen, die gegen das Auge hin immer dunkler wurden. Dort wo die Augen waren schienen Löcher zu sein. Jedenfalls funkelte keine Spiegelung von Licht in ihren Pupillen und er glaubte in einen tiefen Abgrund zu blicken. Einen Abgrund, dessen Unendlichkeit weiter schien als der Zwischenraum zwischen den Sternen am Himmel. Neben ihr stand ein dicker Junge mit kurzen Haaren. Dieser hatte überall im Gesicht und an den Händen pralle Eiterbeulen und Hautfetzen, die herunterhingen. Seine Aufmachung schien so echt, dass sein seliges Lächeln etwas abstrakt wirkte.
Die Frau im Trainingsanzug erschien wieder, verteilte Sugus und Prinzen-Kekse. Tim verstaute die Sugus in der Tasche, die ihm seine Mutter passend zum Kostüm genäht hatte und biss herzhaft in einen der drei Kekse, die er in der Hand behielt. In seinem Mund liefen die Säfte zusammen und sein rumpelnder Magen entspannte sich. Das befriedigende Gefühl des Zerkrümelns des Biskuits vermischte sich mit der Aufregung der süssen Schokolade auf seiner Zunge. Tims Befriedigung war so gross, dass er nicht bemerkt hatte, dass die unheimliche Gruppe ihren Weg wieder fortgesetzt hatte und er musste ihnen nacheilen. Als sie am nächsten Gartentor einfach vorbeigingen fragte Tim etwas ausser Atem und durch einen mundvoll Kekse: “Warum gehen wir da nicht klingeln?”
“Da ist niemand daheim”, antwortete Anna.
Tim kaute still weiter. Es war ihm etwas peinlich, dass er mit seiner Frage das Mädchen mit Krümeln und Schokostückchen geduscht hatte. Als sie am übernächsten Haus ebenfalls vorbeigingen, schluckte Tim einen grösstmöglichen Teil der trockenen Masse und fragte mit vor dem Mund gehaltener Hand: “Und warum gehen wir da nicht rein, da ist ja Licht?”
“Die haben nichts zu geben.”
“Dann gehen wir da wohl auch nicht rein.” Tim zeigte auf das Haus eines Jungen aus seiner Schule, der ihm das Leben schwer machte.
“Warum nicht?” fragte Anna.
“Der Junge, der da wohnt ist immer gemein zu mir. Seine Eltern sind wohl genauso gemein”, antwortete Tim.
“Der Hans-Ulrich?”
“Genau”, antwortete Tim, “Kennst du ihn auch?”
Anna sagte nichts.
Der dicke Junge klingelte. Eine hagere Frau mit einem Gesicht voller Sorgen öffnete die Tür und verteilte schweigend Caramba, Pez, saure Zungen und Lindor-Kugeln. Sie vermied es, die Kinder anzuschauen. Als sie zurück ins Haus eilte fragte Anna mit klarer Stimme: “Wo ist Hans-Ulrich?”
Die Frau erstarrte – eine schwarze Silhouette im Gegenlicht des Korridors.
“Ich weiss es nicht. Draussen, wie ihr, am Schabernack treiben”, antwortete Hans-Ulrichs Mutter. Sie schien unsicher, gar verängstigt.
So ging die Gruppe weiter und sammelte eine Menge süsses Zeugs. Tim fühlte sich wie im siebten Himmel und mampfte die ganze Zeit Schoko-Riegel und andere Schleckereien. Tims Gefährten sprachen nicht. Auch von Tim war ausser Kau- und Schmatzgeräuschen nicht viel zu hören. Zu sehr genoss er das süsse Feuerwerk in seinem Mund und das warme Gefühl in seinem Bauch, das auch vom Händchenhalten mit Anna herrühren konnte.

Einige Strassen weiter trafen sie auf eine andere Gruppe auf der Jagd nach Süssem. Sie kamen aus einem Vorgarten und riefen im Chor: “Jetzt gibt’s Saures! Jetzt gibt’s Saures!”
Ihre Verkleidungen beschränkten sich auf billige Masken und Sturmhauben. Einer von ihnen hatte ein altes rotes Badetuch mit dem Aufdruck “Rivella” umgebunden und schien sich für Superman zu halten. Hans-Ulrich war auch dabei. Tim erkannte ihn an seiner krächzenden Stimme. Die anderen schienen alle etwas grösser als er. Sie waren schlecht verkleidet, hatten aber trotzdem riesige Tüten voll Süssem dabei. Tim wollte vorbeigehen, ein paar Strassen weiter erst wieder Klingeln und anständig nach Süssem bitten. Die grossen Jungs um Hans-Ulrich machten ihm Angst. Die Mischung aus selbstsicherem Grölen und spitzbübischem Kichern, das sie ausstiessen, verhiess nichts Gutes.
Tim zupfte Anna am Ärmel. Sie waren mitten auf der Strasse stehengeblieben und schauten zu wie Hans-Ulrich ein Ei aus einer Tüte nahm und es an die Hauswand warf. Darauf klatschte etwas anderes an ein Fenster und barst. Tim nahm an, es war eine alte Tomate. “Jetzt gibt’s Saures! Jetzt gibt’s Saures!”, johlte die Gruppe immer wieder. Tim drängte Anna weiter zu gehen. Anna und ihre Freunde blieben aber einfach reglos stehen.
Die grossen Jungs würden sie nicht dulden. Im Gegenteil, sie würden sie schlagen und ihnen die süssen Schätze wegnehmen.
“Komm jetzt, wir haben hier nichts verloren, die klauen nur unser Schleckzeugs!”, zischte Tim und zerrte an Annas Arm.
Hans-Ulrich, der gerade im Begriff war ein weiteres Ei zu werfen, hielt inne, drehte sich um, grinste, und ging auf Tim zu.
“Der fremde kleine Scheisser!”, rief er.
Tim wollte wegrennen. Es ging nicht. Anna hielt jetzt seinen Arm. Er versuchte sich zu befreien. Anna machte keinen Wank – ihre Hand eine lockere, aber eiskalte und stahlharte Umklammerung.
“Zeig mal her, was du da hast”, sagte Hans-Ulrich spöttisch.
Tim hielt ihm wiederwillig mit seiner freien Hand den Sack mit Süssem hin.
“Oh, du warst aber erfolgreich”, meinte Hans-Ulrich und warf Tims Beutel in den seinen. “Ich hab auch was Feines, schau.” Hans-Ulrich hielt Tim das Ei vor die Nase. “Wollen wir tauschen?”, fragte Hans-Ulrich.
Tim schüttelte den Kopf.
“Das ist aber nicht nett. Das sollte ich bestrafen”, sagte Hans-Ulrich sanft.
“Er soll es essen!”, rief einer von Hans-Ulrichs Freunden, die sich umgedreht hatten, um die Szene zwischen Hans-Ulrich und Tim zu beobachten.
Hans-Ulrich grinste. “Eine hervorragende Idee!”, rief er und hielt Tim das Ei hin.
Hans-Ulrichs Kollegen hatten einen Kreis um Tim und Anna gebildet. “Iss, iss, iss, …”, grölten sie im Chor.

Alles war schrecklich schiefgelaufen, dachte sich Tim. Er hatte doch nur kurz raus wollen, zwei – drei Schleckereien ergattern und dann unbemerkt wieder heim. Was würden Hans-Ulrich und seine Truppe alles mit ihm anstellen, wenn keine Pausenaufsicht eingriff und weit und breit kein Erwachsener da war, der ihm beistehen konnte. Zudem war es Nacht.
Er hatte schon Halloween-Stories gehört von Kindern, die verprügelt wurden, Kinder, die halb nackt im Wald an Bäume gebunden und erst am nächsten Morgen, völlig unterkühlt, wiedergefunden wurden, Kinder, denen alle Süssigkeiten wieder gestohlen wurden, so wie ihm gerade. Als könnte Hans-Ulrich seine Gedanken lesen, hänselte er: “Sonst gibt’s Schläge”.
Langsam streckte Tim seine Hand nach dem Ei aus. Er wusste nicht, ob er rohe Eier mochte, stellte sich das eklig vor.
Auch Hans-Ueli stimmte in den Chor ein. “Iss, iss, iss!”, grölten sie immer lauter.
“Iss es selber!”, Anna hatte das nur geflüstert und doch hatten es alle gehört.
Das Grölen verstummte augenblicklich und alle Blicke richteten sich auf Hans-Ueli, der das Ei ganz langsam in seinen eigenen Mund würgte, unbeirrt die Eierschale kaute und dabei allerlei knirschende Geräusche von sich gab. Dann wandten sie ihren Blick auf das Mädchen neben Tim. Irgend etwas schien mit dem Mädchen nicht zu stimmen. Irgend etwas stimmte mit der ganzen Szene hier nicht. Da waren noch andere wie das Mädchen, die sie zuvor nicht beachtet hatten. Furchteinflössende Gestalten, die einen zweiten Kreis um Anna und Tim gebildet hatten und plötzlich ganz nah hinter ihnen standen. Und dann war da plötzlich diese eisige Kälte. Die vermeintlich schweren Jungs begannen mit den Zähnen zu klappern, als sich unsichtbare, klamme Finger in ihre Herzen vortasteten. Ihre Gesichter wurden bleich und blutleer, als hätten sie einen Geist oder etwas noch viel Schlimmeres gesehen. Bei Hans-Ulrich und einigen anderen bildeten sich im Schritt dunkle Flecken, während sich in ihrem Innern ein Gefühl von Schauer und Beklemmen einfrass.
Hans-Ulrichs Augen weiteten sich in einem Ausdruck von panischer Angst. “NGNGNGNGNGRRR”, erklang es röchelnd aus seinen blutleeren Lippen.
“Ich sollte das lustig finden”, dachte sich Tim. Endlich zahlt es jemand dem Hans-Ueli heim – und doch war es nicht richtig, was auch immer da gerade passierte.
“Stopp!”, rief Tim, nicht laut, aber deutlich und sehr bestimmend.
Anna und ihre dunklen Gesellen traten zurück und wandten ihren Blick ab. Der eisige Schreckensmoment war vorbei. Hans-Ueli und seine Freunde liessen ihre Taschen mit den erpressten Schleckereien fallen und stoben wie auf Kommando in alle Richtungen davon. Anna hob Hans-Ulrichs Sack voller Süsswaren auf und drückte ihn Tim in die Hand.

Tim schaute Anna in die Augen. “Wer seid ihr?”, fragte er.
“Wir sind die Weens vom Wald”, antwortete sie.
“Ihr lebt im Wald?”
“Ja”
“Mit euren Eltern?”
“Nur ganz wenige von uns”, sagte Anna traurig.
Sie waren weitergelaufen. Zurück in die Richtung von der sie herkamen. Tim wusste nicht wie er seine nächste Frage stellen sollte. Er schritt lange schweigend neben Anna her. Als sie in seiner Strasse angekommen waren, platzte die Frage aus ihm heraus: “Lebt ihr? Ich meine seid ihr echt?”
Anna blieb stehen und lächelte Tim an. Sie war so geheimnisvoll schön und wirkte so vertraut, als kannte er sie schon ewig. Tim hatte in seinem Alter noch keine romantischen Vorstellungen, aber mit Anna würde er sein Leben verbringen wollen.
Anna nahm seine Hände in die ihren, beugte sich vor und küsste ganz sanft Tims Mund. Ihre Lippen waren kühl, was ganz angenehm war, denn Tim hatte einen ganz heissen Kopf. Sein Magen schien Sprünge zu machen, trotz all dem süssen Zeugs darin und als Anna ihre samtige Wange an seine schmuste, wollte er einfach nur noch tausende Jahre mit ihr kuscheln. Aber sie liess ihn los. “Pass auf dich auf, Tim”, sagte sie.
Tim nickte nur.
“Ich werde wiederkommen”, versicherte Anna.
Dann hüpfte sie davon und verschwand im Dunkeln der Nacht.

Als Tim wieder vor seinem Fenster stand, wurde ihm bewusst, dass er unmöglich mit dem Sack voller Süssigkeiten rein konnte. Es würde wohl schon so eine hefige Standpauke geben.
In Tims Zimmer brannte kein Licht. Das liess darauf hoffen, dass seine Abwesenheit noch unbemerkt geblieben war. Hastig zerrte Tim die lästige Verpackung von einigen Celebration-Schokoladen und stopfte seinen Mund voll mit zwei mini Bounty, einem mini Mars, drei mini Dove mit Caramel und einem mini Twix. Sein Mund war voll, aber eine saure Zunge und zwei Caramba-Stängel hatten doch noch Platz. Er kaute und genoss das Feuerwerk an Geschmäckern in seinem Mund.
Er schaute um die Ecke des Hauses. Im Fenster der Stube erkannte er das flimmernde Licht des Fernsehers. Seine Abwesenheit war noch nicht entdeckt worden. Es blieb ihm noch eine Gnadenfrist. Als nächstes stopfte Tim seinen Mund voll mit Kägi Fret. Er musste seine Beute jetzt, hier draussen im Garten geniessen. Aufsparen konnte er nichts, denn seine Mutter würde die verbotenen Freuden riechen, aufspüren und konfiszieren. Dann würde sie viele Fragen stellen: Wann, woher, wie, warum, wie konntest du nur und warum tust du mir das an?
Tim schob mehr Süsses nach. Diesmal war es eine Mischung aus Reeses, Gummibärchen und weisser Schokolade. Tim war glücklich in seiner Hast.

Tims Mutter war weniger zufrieden. Sie hätte sich einen anderen Schluss für die Serie gewünscht. Ihr Mann schaltete den Fernseher aus, während sie die Reste ihrer Naschereien wegräumte – eine faulige Ecke eines schrumpeligen Apfels. Tim hatte unterdessen gleich vier Munz Schoggistengeli im Mund. Sein Magen war schon lange voll. Er schmerzte sogar ein wenig. Sein Mund aber genoss die fette süsse Masse und sein Appetit war noch lange nicht am Ende, denn da gab’s noch mehr zu kosten. Die Nidletäfeli zum Beispiel, welche Hans-Ulrich von einer älteren Dame erpresst hatte. Sie hatte sie aus dem Küchenschrank hinter den Fertigsuppen und dem Maggi hervorgeholt. Ihre Enkelin hatte ihr die Täfeli vor einigen Jahren geschenkt und ihr damals so viel Freude bereitet, dass sie sie für einen besonderen Moment aufgespart hatte, der nie kam. Tim setzte die durchsichtige Plastiktüte an seinen Mund und schüttete soviel in seinen offenen Mund bis er voll war. Tim liebte Nidletäfeli und in der Dunkelheit sah er trotz der Transparenz der Verpackung nicht so genau, was er zu sich nahm.

In dem Moment als Tim die Nidletäfeli zu kauen begann, stellte Tims Mutter ihre Zahnbürste wieder zurück. Tim kaute. Irgend etwas war nicht, wie es sein sollte. Wahrscheinlich war der Geschmack der Munz Schoggistängeli noch zu dominant in seinem Mund. Er kaute weiter, schluckte, schüttete nochmals nach, kaute und schluckte wieder. Etwas stimmte immer noch nicht. In genau dem Moment, wo Tims Mutter Tims Zimmer betrat, verzog sich Tim hinter einen Busch und kotzte in den Sack mit den übrig gebliebenen Süssigkeiten. Alles kam wieder rauf, nur hatte alles nicht mehr denselben Geschmack, wie beim Essen. Ein Stück unverdaute, saure Zunge kratzte Tim auf seinem Weg zurück ins Freie unangenehm im Hals.
Tims Mutter tastete derweil im Dunkeln Tims Bett ab. Gewissensbisse hatten sie bereits während dem Fernsehen heimgesucht. War sie zu streng mit dem Jungen? Leise rief sie Tims Namen, schaute auf den Boden auf der anderen Seite des Bettes. Rausgefallen war er nicht. Auf der Toilette war er auch nicht gewesen und wenn er in ihr Schlafzimmer gegangen wäre, hätte sie das mitbekommen. Sie knipste die Nachttischlampe an und suchte den Rest des Zimmers ab. Nichts. Sie schaltete das grosse Deckenlicht ein und sah im Schrank nach, unterm Bett und überall, wo sie zuvor bereits gesucht hatte. Dann fiel ihr das Fenster auf, das nicht geschlossen, sondern nur angelehnt war. Das war der Moment, wo sie aufschrie, das Fenster ganz aufriss und Tims Namen in die Nacht hinaus kreischte.
Das war auch der Moment, wo Tim, keine fünf Meter von seiner Mutter entfernt, beim Kotzen die Phase erreicht hatte, wo nicht mal mehr Magensäure hochkam. Überwältigt von lautlosen Würgen und dem Gefühl sein Magen würde sich gleich nach Aussen stülpen, konnte er seiner Mutter nicht antworten.
Als er sich erholt hatte, hörte er sie im Inneren des Hauses seinen Vater anschreien. Kraftlos kletterte er durch das Fenster in sein Zimmer. Er hörte, seine Eltern bei der Eingangstüre, schleifte sich dahin und sah, wie die Lichter ihrer beiden Velos in der Nacht verschwanden. Mit einem Schulterzucken drehte er sich um, zog das Batman-Kostüm aus, legte sich in seine Bett und träumte Augenblicke später von Anna.

Von diesem Tag an stand immer eine Schale mit Süssigkeiten auf dem Stubentisch. Tims Vater freute sich natürlich über die Leckereien und so fiel es nicht auf, dass Tim nie davon naschte. Auch Tims Znüni war ausnahmslos an jedem Schultag mit einem Schokoriegel bestückt. Diesen schenkte er in der Schule immer jemand anderem. Meistens aber dem Hans-Ueli, der seit der Halloween-Nacht immer einen grossen Bogen um Tim machte und erschreckt zusammenzuckte, wenn ihn Tim ansprach. Ein Jahr lang ging Tim an jedem freien Nachmittag in den Wald und während diesem Jahr sass er jeden Abend vor seinem Fenster und beobachtete das Feld und den Waldrand dahinter.

Ein Jahr lang war alles vergebens, bis er, am Abend des 31. Oktobers eine Gruppe Kinder sah, die aus dem Dunkeln des Waldes in das Mondlicht trat. Tim lächelte und zog das gestrickte Batman-Kostüm an.

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