Es ist okay!

November, kurz vor Feierabend.
Die Dunkelheit hatte die Fenster in Spiegel verwandelt – Spiegel, die das Leben draussen noch unerreichbarer erscheinen liessen und die brutale Einsamkeit der ordentlich aufgeräumten Wohnung zurückwarfen.
Silvia sass am Küchentisch. Sanfte Gitarrenklänge ertönten aus den Lautsprechern ihres Laptops. Der Bildschirm war mehrheitlich dunkel – Überreste einer vermeintlich toten Videokonferenz.

Silvia war keine Voyeuristin, jedenfalls nicht mehr als andere Menschen. Es war reiner Zufall gewesen, als sie vor einigen Monaten aus Versehen beim letzten Meeting nicht aufgelegt hatte. So war sie etwas verwirrt, als sie, nach einem kurzen Trip ins Coop, Musik aus ihrer Küche hörte. Die Quelle der Klänge war schnell identifiziert. Maurice hatte ebenfalls nicht aufgelegt, spielte Gitarre und sang ein trauriges Lied. Es gefiel ihr. Sie legte nicht auf.

Danach legte sie eigentlich nie mehr auf. Meist war sie dann allein im Meeting. Manchmal aber passierte auch anderen, was ihr passiert war. Sie hörte Raschelgeräusche oder Tippen, meist gefolgt von einem kurzen Fluch bevor die Leitung gekappt wurde. Einmal belauschte sie so ein Telefonat mit einer Immobilienverwaltung. Ein andermal einen Ehestreit. Sie wusste nicht, ob sie das Gezanke oder die darauf folgende Versöhnung mehr gestresst hatte. Stress hin oder her, sie fühlte sich in diesen Momenten nicht mehr ganz so alleine.

Auch während den Online-Meetings passieren interessante Dinge. Katzen laufen durchs Bild, Postboten klingeln, Kinder winken schüchtern in die Kamera – aber das ist alles voll okay so.

Stören tut sich Silvia nur an wenigen Sachen: Wenn andere die Person unterbrechen, die gerade spricht oder wenn jemand andauernd spricht und andere nicht zu Wort kommen lässt. Für Husten und Niesen, gehört das Mikrofon stummgeschaltet, zum Nasebohren die Kamera aus und auf die Nahaufnahme vom Yoghurtschlürfen könnte sie auch verzichten. Aber das alles ist, auch wenn nicht stilvoll, trotzdem okay so.


Es ist ja eine neue Situation für alle. Sie selbst erscheint oft mit nassen Haaren am Bildschirm, weil sie sich auch tagsüber mal eine Fahrt ins Grüne auf dem Bike gönnt. Das war okay so.

Einige erschienen mit verschlafenem Blick, weil sie einen Mittagsschlaf gebraucht hatten. Auch das war okay.

Es gab Kolleginnen und Kollegen, die klinkten sich zwischendurch für einen halben Tag aus oder arbeiteten zu Unzeiten. Das war okay so.
Einige klagten, sie seien nicht so produktiv wie sonst, wären gar unmotiviert. Das war okay, denn irgendwann würde wieder Normalität einkehren. Nur wann? Wann konnte Silvia wieder raus und im Büro wieder Menschen treffen?

Maurice stimmte ein neues Lied an.
Der vergessene Call mit dem offenen Mikrofon war ihm jetzt schon einige Male passiert: Nämlich mit zunehmender Regelmässigkeit jeden zweiten Donnerstagabend nach dem grossen Abstimmungsmeeting. Silvia vermutete, es geschah mit Absicht. Er wusste, dass sie auch noch da war. Sonst hätte er letztes Mal nicht nach einem einstündigen Privatkonzert vor dem Verlassen des Calls gute Nacht geflüstert.

Maurice sprach nicht viel in den Meetings, denen sie gemeinsam beiwohnten. Aber wenn Maurice mal sprach, war seine Stimme rauchig. Das gefiel ihr. – Es war komisch, sie wusste nicht, wie Maurice aussah. Seine Kamera war immer aus, aber das war okay so.


Silvia stellte sich vor, wie Maurice bei ihr in der Küche sitzt, wie sie ihm live und vor Ort noch gebannter zuhört, ihm Rotwein nachschenkt und er ihr zwischen zwei Songs zuprostet – eine schöne Träumerei.

Heute Mittag hatte sie sich geschminkt. Das tat sie sonst kaum noch. Das war die Entscheidung gewesen, da musste sie jetzt nicht mehr zögern. Silvia stellte die Kamera an. Sie lächelte in den dunklen Bildschirm und wiegte ihren Kopf zum Takt der Musik. Maurice sollte eine Zuschauerin haben und, als Treiber ihrer Emotionen, die Wirkung seines Schaffens in ihrem Ausdruck sehen. Das war sie ihm schuldig.

Der Song war fertig. Silvia applaudierte und bedankte sich. „Für dich mach ich das gerne“, antwortete Maurice und stellte endlich auch die Kamera ein. Er war sehr viel jünger als sie gedacht hatte. Maurice zwinkerte ihr zu. Silvia zwinkerte zurück.

Es war okay so.

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