Drunk, Chunk, Skunk, Hunk or Monk – wähle weise.

„Drunk, Chunk, Skunk, Hunk or Monk – wähle weise, wie du aus dem Lockdown heraus kommst!“ Diesen Tweet fand ich letzten März noch lustig. So einfach ist es nicht. Das weiss ich heute.

Ich trete vor die Haustür. Es ist später als ich vor hatte und früher als mir lieb ist. „Nicht normal“, denke ich mir. Normal ist jetzt die „neue Normalität“ – seit März letztes Jahr im Home Office. Im „neuen Normal“ sitze ich um diese Zeit noch im Pyjama auf dem Sofa, checke Mails, plane meinen Tag und schlürfe Tee. Früher – im damaligen Normal – war das anders. Früher sass ich um diese Zeit noch im Zug nach Bern oder Zürich, bereitete mich auf ein „physisches Meeting“ vor und schlürfte Kaffee. Damals habe ich mich noch gefreut meine Arbeitskollegen zu sehen. 

Es ist ein trüber, verregneter Morgen. Kaum vorzustellen, dass der Rest der Schweiz gegen überwältigende Schneemassen zu kämpfen hat. Ich weiss das nicht nur aus den Nachrichten. Die Kollegen, die ich sonst in Zürich oder Bern treffe, sehe ich jetzt in Online Meetings. „Wie ist das Wetter bei dir?“, ist eine oft gestellte Frage. Über Ferienpläne und Freizeitaktivitäten tauschen wir uns nicht mehr aus. Auch Corona entwickelt sich zum Tabuthema.

Wie Juwelen leuchten die silbernen Regentropfen, die an den Hecken hängen geblieben sind. Der Geruch von brennendem Holz stimmt mich wehmütig. Die Strassen sind menschenleer. Wir biegen in die Feldeckstrasse ein. Wir, das sind meine Frau, Christine und ich. Sie ist der Auslöser für diesen ungewöhnlichen Spaziergang. Anfangs Jahr drängte sie, wir sollten jeden Morgen spazieren gehen. Das würde uns guttun. Nach vierzehn Tagen habe ich mich nun dazu aufraffen können. Christine erzählt mir, was sie alles noch tun muss. Sie ist selbständigerwerbende Übersetzerin, arbeitet schon immer von zuhause aus und schmeisst unseren Hauhalt. Sie spricht von Aufträgen, Fristen, Kunden, Arbeiten im Haushalt und all den Dingen, die sie loswerden will, damit wir mehr Ordnung haben. Ich sage nichts, fühle mich ertappt. „Drunk, Chunk, Skunk, Hunk or Monk – wähle weise, wie du aus dem Lockdown kommst!“ Ich bin kein Skunk, auch wenn ich meine Kleider nicht mehr ganz so oft wechsle wie früher. Körperpflege ist mir wichtig. Die Wahl meiner Schuhe hat sich ebenfalls drastisch verändert. Seit Monaten verstaut sind meine verschiedenen Converse Sneakers, die ich jeweils farblich passend zu meinem Outfit gewählt habe. Im Home-Office schaut mir niemand mehr auf die Füsse. Stattdessen trage ich Birkenstöcke, Wanderschuhe oder die uralten, wohlig eingetragenen Camel Boots. Mit „Skunk“ ist aber auch der Wohnraum mitgemeint. In den elf Monaten zuhause habe ich es nicht geschafft mein Büro fertig aufzuräumen und den Keller auszumisten. Dabei war das ein klares Ziel! 

Wir verlassen die Quartierstrassen und beschreiten den Weg an Feldern vorbei durch die Alee. So heisst unser Standardspaziergang „Alee-Cher“. Wir grüssen vereinzelte Menschen in Regenjacken. Alle haben einen Hund dabei. Unseren Hund mussten wir letzten Herbst einschläfern lassen. Ein Grund weniger, um rauszugehen.

Christine wechselt das Thema: „Ich habe gestern mit Monika telefoniert“. Monika ist eine Freundin von uns. Sie ist kurz vor dem ersten Lockdown mit ihren Kindern für ein Jahr nach Marokko ausgewandert.

„Sie wollen ihr Haus hier in der Schweiz verkaufen“, fährt Christine fort, „und Monika kommt für eine Woche zurück, um das ganze Haus auszumisten und alles mit den Untermietern in Ordnung zu bringen. Das wäre mir zu stressig.“

„Und doch haben sie das Richtige getan, sich auf dieses Abenteuer einzulassen“, sagte ich. Christine stimmt zu und wir sprechen von unseren Träumen auszureissen und abzuhauen – auch wenn es nur für einige Wochen wäre. Überhaupt ist meine Abenteuerlust gestiegen. Auch im Kleinen: Ich vermisse das Feierabendbier mit Kollegen. Als „Drunk“komme ich nicht aus dem Lockdown. Ich trinke nur in Gesellschaft. Einige reden von Dry-January – bei mir? Dry 2020, and counting.

In der Ferne dampft die Kehrichtverbrennungsanlage, als wäre nichts geschehen. Was  in unserer Gesellschaft gerade abgeht, interessiert sie nicht. Es gäbe so viele wichtige Themen im Moment. Allen voran die anrollende Klimakatastrophe. Aber auch Christine und ich sprechen wieder über Covid und die neuen Massnahmen. 

„Wir können jetzt als fünfköpfige Familie niemanden mehr sehen, aber der Schulsport, wo unsere drei Söhne mit wildfremden Kindern wuseln, bleibt erlaubt.“ 

„Ja, dafür dürften wir uns jeden Morgen im Stundentakt mit anderen Leuten zum Kaffee treffen und so wöchentlich 36 Personen anstecken.”

“Es wäre schon hilfreich, wenn die Hintergründe für die Massnahmen besser kommuniziert würden.” Es wurde alles schon mal gesagt. Das Thema ist ausgelutscht. 

Wir treten endlich in den Wald. Dies ist mein liebster Teil des Spazierganges. Der Wald bringt mir innere Ruhe. Ich fühle mich näher bei mir selbst. Wir stapfen durch Matsch. Ein Eichhörnchen, aufgeschreckt durch unser Kommen, eilt vorbei, hält inne, schaut uns an, eilt weiter, stoppt, schaut uns wieder an und verschwindet auf einen Baum. Still geniessen wir die flüchtige Begegnung. Ja, wir sind achtsamer geworden in den letzten Monaten. Wenn das „Monk“ als Ruhe, Besinnung und im Moment sein zu interpretieren ist, habe ich da in den letzten Monaten definitiv Fortschritte erzielt. Gemeint war mit „Monk“ wohl eher die sexuelle Aktivität.

Beim Golfplatz steht in Grossbuchstaben: „Anlage gesperrt“. Auch die Reichen können nicht mehr alles. „Jammern auf hohem Niveau“, denke ich mir. Ja, ich vermisse vieles, finde aber das Gute an allem. Man muss nur genau hinschauen: Die engere Beziehung zu meinen Kindern und den wenigen Freunden, die wir noch sehen, die Entschleunigung des Alltags, die vielen Spielnachmittage mit den Kindern, das Kennenlernen unserer näheren Umgebung. Ich möchte den Lockdown nicht missen, nur das Home-Office, das könnte mir gestohlen bleiben. Verglichen mit dem Los von anderen geht es uns sehr, sehr gut.

Wir sprechen über Trump und den Coup. Wahrscheinlich war der Golfplatz der Auslöser dafür. 

Der naturnahe Teil unseres Spaziergangs ist vorbei. Ich blicke kurz zurück und denke: “So einfach geht Naherholung.”

Zurück im Quartier überholt uns ein Jogger. Der Mann, der wenig jünger ist als ich, hätte den Sport weniger nötig. „Chunk or Hunk“: Ein Grund für diesen Spaziergang ist meine Gesundheit. Ich hatte mir letzten März vorgestellt, ich würde die zusätzliche Zeit nutzen um fit zu werden. Das habe ich nicht geschafft. Es scheint mein Gewicht verläuft parallel zur Kurve der Covid-Fälle. Der Home Trainer steht in meinem Büro im Keller. Diesem Käfig entfliehe ich sobald die Arbeit erledigt ist. 

Zurück daheim. 52 Minuten haben wir für 4,3 Kilometer gebraucht. 250 Kilokalorien verbrannt. Ich bedanke mich bei Christine für den anregenden Start in den Tag. Ich hoffe er wird Teil der neuen Normalität.

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